Kitzbüheler Alpen quer durch
Von der Hohen Salve zum Zweitausender und wieder retour – ein ambitioniertes Experiment auf Skiern durch zwei Skigebiete.
7:45 Uhr: Gerade erst ist die Sonne hinter der Hohen Salve aufgegangen. An der Talstation in Hopfgarten herrscht geschäftige Betriebsamkeit. Allerdings bin ich die Einzige, die jetzt schon an der Kassa steht und eine Liftkarte braucht. Ich hoffe inständig, dass ich gleich mit der ersten Gondel, gemeinsam mit den "Bergbahn-Bediensteten" nach oben darf. "Wo willst du hin?", fragt mich der Liftwart etwas ungläubig. "Von der Hohen Salve zum Zweitausender und wieder retour!" "Na Servus, da hast du ja einiges vor", meint er schmunzelnd. Zum Glück habe ich keine Zeit zu überlegen, wie er das meint. Rein geht es in die Gondel, auf die erste Bergfahrt des Tages – ab jetzt gibt es kein Zurück mehr!
Morgendliche Schneestimmung
Während ich die 10 Minuten nach oben schwebe, habe ich alle Zeit, mich der Schönheit der in frühmorgendliches Licht getauchten Natur zu widmen. Jetzt, Mitte März, hält der Frühling im Tal und auf den gegenüberliegenden Sonnenhängen Einzug. Unter mir zeigt sich, trotz der angenehmen Temperaturen, eine perfekt präparierte Piste. Heute noch ganz "jungfräulich", ohne Schwünge und Hügel. Eigentlich ist es ja wie in einem Märchen, wie jede Nacht hunderte Bergbahnmitarbeiter wie Heinzelmännchen ausrücken, um unbemerkt bis zum Morgengrauen eine perfekt präparierte Piste zu zaubern. Und das auf über 460 km Pisten allein in den Skigebieten SkiWelt Wilder Kaiser - Brixental und Kitzbühel! Ein Rumpeln reißt mich aus den Gedanken – Mittelstation. Umsteigen.
Auf Umwegen zum schönsten Aussichtsberg Tirols
"Endstation!" Was?! Ein Defekt an der Gondelbahn Hohe Salve 2 sorgt dafür, dass es erstmal nicht weiter geht. Das fängt ja gut an! "Sicherheit geht vor! Zuerst müssen die Gondeln gut im Seil liegen – das kann noch dauern. Aber du kannst mit dem Sessellift bis zum Rigi, dann nach Hochsöll und mit der Söller Gondel nach oben fahren." Wieder so ein Schmunzler, aber ich bin dankbar für die Auskunft und kann dem Gedanken, mit warmer Frühjahrsluft in der Nase kitzelnd am Sessellift zu sitzen tatsächlich etwas abgewinnen. Und ein wirklicher Umweg ist es ja auch nicht. Nach zwei Schwüngen, einem Plumps auf der Sitzbank und eine Minute später schwebe ich mit der 3er-Sesselbahn Richtung Rigi.
Über alle Berge auf 1.829 m
"Mit zwei modernen Gondelbahnen kommen Sie entspannt zum Gipfelsieg." Die Website der SkiWelt Wilder Kaiser - Brixental hat nicht zu viel versprochen. Angenehme Fahrt, aber noch viel unglaublicheres Panorama! Hier heroben scheinen wirklich die Gipfel zu grüßen und auch die Hohe Salve grüßt zurück – nicht nur wegen ihres lateinischen Namens. Über den Wilden Kaiser nach Kitzbühel, von den Zillertaler Alpen bis zu den Hohen Tauern. Auch mein Reiseziel – der Zweittausender weit hinterm Großen Rettenstein – lässt sich von hier aus schon erahnen. Noch einiges an Skikilometern liegt vor mir, wenn auch die Luftlinie trügen mag. Bei perfekten Sichtverhältnissen, so wie heute, kann man von der Hohen Salve auf insgesamt 70 Dreitausender blicken. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass an diesem schönen Flecken Erde eine Kapelle steht. Genauer gesagt, die höchst gelegene Wallfahrtskirche Tirols. Das Salvenkirchlein wurde bereits 1589 urkundlich erwähnt. Ob ihre Energie tatsächlich ausreicht, um Kopfschmerzen, Bandscheibenleiden und Depressionen den Garaus zu machen, sei dahingestellt, auf jeden Fall ist sie aber einen Besuch wert!
Einmal rundherum in der Umadum-Stubn
Gleich neben dem Salvenkirchlein hat sich Peter Ager mit dem Gipfelrestaurant einen Traum erfüllt. Die Umadum-Stubn ist seine neueste Errungenschaft. Der Lampenschirm aus getrocknetem Heu, die Gerichte à la Oma und einmal in der Stunde dreht sich die Plattform um die eigene Achse. Die Kulisse, die sich einem beim gemütlichen Frühstück eröffnet, ist einzigartig – Leoganger Steinberge, Wilder Kaiser und das Inntal bis hinaus nach Bayern. Erster Zweifel kommt auf und der innere Schweinehund lässt grüßen. Eigentlich würde ich viel lieber hier beim Peter weiter genießen, doch "Nichts da", drängt die Vernunft, "hopp hopp, ab auf die Ski!" Schweren Herzens, aber wohl gestärkt, geht es zurück in die Sonne und rein in die Bindung.
Über Schwarz nach Rot zum Alpeniglu Dorf
70 Grad schwarze Piste liegen vor mir. Welch' ein Glück – noch fast unbefahren. Ein tiefer Atemzug und los geht’s. Die Bretter liegen perfekt im Schnee und weder Eis noch Harsch sind zu spüren. Nur noch nicht ganz "eingefahrene" Knie. Die nächste Route ist rot und mit der Zeit auch die Anspannung verschwunden. In der Senke, direkt an der Bergstation Hochbrixen, liegt das Alpeniglu Dorf. 2009 hatte Benno Reitbauer die Schüsselidee dazu und die Bergbahn Brixen im Thale den perfekten Platz. Jedes Jahr wechseln die Themen und dazu passend die Eisskulpturen in den Iglus. Ob für einen kurzen Besuch oder eine Übernachtung im Iglu, hier auf Hochbrixen wird von Dezember bis Mitte März einiges geboten. Aber heute ist leider keine Zeit bei Loungemusik zu chillen – die Gondelbahn ins Tal wartet.
Nostalgische Gondelfahrt und architektonische Maßstäbe
Natürlich führt von Hochbrixen auch eine Skiabfahrt ins Tal. Jetzt, Mitte März, ist sie allerdings schon den Blumen und Grashalmen auf der Sonnenwiese gewichen. Aber so eine Fahrt mit einer fast "nostalgischen" Gondelbahn hat auch etwas für sich. 1986 wurde die Gondelbahn Hochbrixen erbaut. Lange Zeit war sie wegen ihrer modernen Architektur Anziehungspunkt für Architekten und Hochschulen aus nah und fern. Direkt gegenüber liegt die topmodere, 2008 erbaute SkiWeltbahn. Sie ist nicht nur technisch, auch baulich eine der modernsten Bahnen Tirols. Ein architektonisches Meisterwerk, eine 35 m lange Stahlbrücke, verbindet beide Talstationen. Hier auf der "Schatt'seit", wie die Brixentaler sagen, haben die Bäume sogar vereinzelt noch ihr weißes Kleid an. Von dieser Seite aus scheint die Hohe Salve bereits weit hinter mir zu liegen. Innerlicher Jubel! Das Ziel rückt näher.
Von der "Waxen" zur "Bärigen"
Westendorf war einst bekannt als das schönste Blumendorf Europas. Für seine Bars und Diskotheken und seine niederländischen Gäste. Das Skigebiet allerdings war lange Zeit ein Geheimtipp. Auch heute noch hat es nichts von seinem Charme verloren – traumhaft schöne Kulissen, Bergbahnen und Abfahrten, die sind harmonisch in den natürlichen Verlauf der Berge einfügen. Klingende Namen wie "Die Waxe, "Die Bärige" oder "Die Gmiatliche" ergänzen die Skiroutenbezeichnungen und helfen bei der Wahl der Lieblingstour – zumindest, wenn man den Dialekt hierzulande versteht. Auch hat Westendorf einen der bekanntesten Snowparks Europas. Snowboardlegende Gogo Gossner hatte 1998 die Idee zum Boarders Playground. Seitdem haben unzählige die "Big Mama" geshredded, oder sich und bei den "Shred Down Masters" im Slopestyle Contest gemessen. Es ist 11:23 Uhr und ich lasse mich zufrieden in den Liftsessel beim Gampenkogel fallen. Von hier aus hat man den besten Blick auf die Boxes, Rails und Jumps. Nur leider sind die Freestyler heute schon beim Chillen. Also nix mit beeindruckenden Stunts. Schade! Vielleicht das nächste Mal.
Der letzte Teil und äußerstes östliches Ende der Skiwelt Wilder Kaiser - Brixental liegt vor mir. "Die Bärige" – laut Duden: großartig, außergewöhnlich, gewaltig – so soll sie sein. Sie führt entlang der "KiWest" hinunter ins Spertental und ist die Verbindung zum Skigebiet Kitzbühel. Auch hier – Sonne pur! Tausche Skibrille gegen Sonnenbrille.
Skigebietswechsel in 5 Minuten
Um ins Skigebiet Kitzbühel zu gelangen, braucht man keine weitere Skikarte, aber eine 5-Minuten-Fahrt mit dem KitzSki-Xpress. Die Kosten dafür hat man mit der AllStarCard bereits mitgezahlt. "Moin", kommt es aus der Fahrerkabine. Ich grüße zurück und wundere mich einerseits über ein "Guten Morgen" zu Mittag und anderseits über einen hierzulande nicht üblichen Dialekt. Er komme aus Deutschland, gesteht mir der Buschauffeur. Na gut, das hätte ich gerade noch erraten. Sei aber bereits seit 8 Jahren in Tirol. Auch seine Frau lebe im Brixental. Und er wäre begeisterter Skifahrer. Viele Leute würde man hier kennen lernen, das sei spannend an seiner Arbeit – auch wenn er nur zwischen den zwei Bergstationen hin und her pendle. Außer mir ist jetzt zur Mittagszeit niemand im Bus. Also beschließe ich, dem netten Fahrer von meinem Experiment zu erzählen. Er soll ja schließlich auch heute etwas seiner Frau berichten können. Als ich fertig bin, sagt er nichts mehr. Hält an. Grinst. Und wünscht mir noch einen schönen Tag. Etwas verdutzt, steige ich aus und denke mir: "Schon wieder dieses Schmunzeln."
Adrenalinkick 400 Meter über Grund
Die Abfahrt "Schroll-Skirast" ist das Pendant zur "bärigen" KiWest. Sie ist die westlichste Skiabfahrt des Skigebiets Kitzbühel und verbindet eben dieses mit der SkiWelt Wilder Kaiser - Brixental. Tiefster Winter herrscht hier im Tal. Frühlingsblumen und Flecken grüner Wiesen – Fehlanzeige. Dafür ein neues Panorama. Dieses Mal mit Blicken auf Kitzbühel und Jochberg. Um letzteres zu erreichen und endlich die Berge des Salzburger Pinzgaues und meinen Zweitausender zu sehen, muss Höhenangst überwunden und ein tiefer Graben überquert werden. Die 3S – eine Peak-to-Peak Gondelbahn – verbindet Kitzbühel mit Jochberg bzw. mit dem Pinzgau. Jedes Mal aufs Neue ist die 3.700 Meter lange und an ihrer höchsten Stelle 400 Meter über Grund verlaufende Bahn ein echtes Erlebnis! Die Gondel Nr. 1 hat sogar einen Boden aus Panzerglas. Etwas für Mutige und Schwindelfreie – so Auge in Auge mit dem Talboden.
Der Zweitausender rückt näher
Nach dem Adrenalinkick meldet sich langsam der Hunger. Gut, dass es nicht mehr weit ist bis zur Bärenbadalm. Und auch der Zweitausender rückt näher. Zumindest kann man ihn hier von der Bergstation Süd der 3S-Bahn schon recht gut erkennen. Kurz gerechnet – nur mehr drei Lifte und drei Abfahrten, dann bin ich am Ziel. Zeit, sich eine kleine Pause zu gönnen. Am liebsten beim Essen. Käsespätzle mit Salat, dazu ein Skiwasser – weil es sich so gehört. Und auch, weil ich jetzt eine ordentliche Landung Zucker vertragen kann – Himbeeren spielen im Skiwasser nämlich eine unterbesetzte Nebenrolle. Bis ich gegessen und gezahlt habe, rückt die Zeit ins Land und eigentlich sollte ich schon wieder längst auf den Skiern stehen und den letzten Berg ins Auge fassen. Noch eine Abfahrt – noch eine Bergfahrt. Nach dem Essen drückt ordentlich Kraft auf die Skier und die nur leicht abfallende Piste ist gut bewältigbar. Erst an der steileren Kante machen sich die letzten 30 Skikilometer in den Beinen bemerkbar. Egal. Jetzt ist das Ziel zum Greifen nahe. Der "Zweitausender" – eine 8er-Sesselbahn mit Sitzheizung, modernster Komfort für den letzten Aufstieg. Majestätisch schwebe ich vom Trattenbachgraben in die Höhe. Rechts die Flanke des Kleinen Rettenseins mit Spuren von abgegangenen Lawinen. Die Sonne blendet – ich kneife die Augen zusammen und sehe ihn auf der rechten Seite, jetzt so Augen in Auge auf gleicher Höhe fast etwas unscheinbar – der Zweitausender. Das Gipfelkreuz strahlt, als wolle es uns Neuankömmlinge am Gipfel willkommen heißen.
Grenzgebiet Tirol - Salzburg
Exakt um 12:52 Uhr rutsche ich vom Sitz, steige aus und gleite hinüber zum Gebirgskamm. Tiefblauer Himmel zeigt sich über schneeweißen Pisten. Ausblicke auf die Hohen Tauern mit dem höchsten Berg Österreichs, dem Großglockner. Hier am Kamm verläuft die geografische Grenze zwischen den Bundesländern Tirol und Salzburg, zwischen dem Pinzgau und Kitzbühel. Grenzen, die es wohl auf der Karte geben mag, nicht aber im Skipass. Denn von hier könnte man auch gleich weiter Richtung Pass Thurn und Mittersill fahren.
Für mich endet am Zweitausender der Ausflug ins Unbekannte, meine Reise führt nun wieder zurück, über den Trattenbach Graben, die 3S, vom Pengelstein über "Die Bärige" und die Choralpbahn nach Hochbrixen – von dort nach Hopfgarten. Am Ende sind es stolze 99 Kilometer, 10.574 Höhenmeter und inklusive Frühstück am Berg und Mittagessen 8 Stunden und 32 Minuten. Müde, mit brennenden Oberschenkeln und einer sonnengebräunten Nase lade ich meine Ausrüstung ins Auto – blicke zurück über die Berge. "Na, wie war's?" Ich drehe mich um und sehe den Liftwart von heute Morgen vor mir. "Experiment gemeistert", verkünde ich überglücklich. "Bravo!" sagt er. Und dieses Mal weiß ich, dass er es ernst meint.