Die Spinnerinnen aus dem PillerseeTal
Den Dreh raus
Die beiden PillerseeTalerinnen Christine Widmoser und Ursula Fliri lassen das uralte Handwerk des Spinnens wieder aufleben. Im Beitrag verraten sie, wie faszinierend und entschleunigend die urige Handarbeit sein kann.
Die beiden PillerseeTalerinnen Christine Widmoser und Ursula Fliri verarbeiten zausige Schafwolle Schritt für Schritt zu dünnen, kompakten Fäden.
Zwei, die am Rad drehen
Es ist ein idyllisches Bild, das sich ergibt, wenn man die beiden Damen in ihren selbst gemachten, von Wolle und Leinen dominierten Outfits auf ihren hölzernen Stühlchen am Spinnrad beobachtet. Die rhythmische Drehbewegung des Rades im Einklang mit dem sanften Klackern des Fußpedals übt eine beruhigende, ja fast schon therapeutische Wirkung auf den Betrachter aus. Das muntere Geplauder der Spinnerinnen fügt sich wie ein essenzieller Bestandteil in die Szenerie ein. Fasziniert von den geübten Händen, durch die die beiden Frauen gekonnt die Rohfaser gleiten lassen und zu einem dünneren Strang formen, verliert sich der Blick in der immer dicker werdenden Spule. Man kann es kaum begreifen, was das Auge in diesem Moment wahrzunehmen versucht: Christine Widmoser aus St. Ulrich am Pillersee und Ursula Fliri aus Fieberbrunn praktizieren tatsächlich noch die jahrtausendealte Kunst des Spinnens. Sprichwörtlich im Handumdrehen verwandeln sie zausige Schafwolle in dünne, kompakte Fäden. „Angetrieben von unserer eigenen Leidenschaft für das Spinnen haben wir es uns zum Ziel gesetzt, dieses faszinierende Handwerk wieder mehr unter die Leut‘ zu bringen“, sind sich die beiden einig.
Die Spinnerinnen verwenden ausschließlich Schafwolle aus der Umgebung und legen großen Wert auf die Qualität des eingesetzten Rohstoffs.
Wie alles begann: Ein Treffen mit Auswirkungen
Selbst zum Spinnen gekommen sind die PillerseeTalerinnen durch ihre Begeisterung für die verschiedensten Handarbeiten. So erfüllte sich Christine bereits 2017 den Traum von der eigenen Filzwerkstatt. Wie es das Schicksal so wollte, meldeten sich beide zwei Jahre später zu demselben Spinnkurs im PillerseeTal an. „Dort kreuzten sich unsere Wege und wir haben das Handwerk von der Pike auf gelehrt bekommen“, erzählt Christine. Schnell bemerkten die Damen, dass sie viel mehr eint als die Teilnahme am besagten Workshop: gemeinsame Interessen, die Liebe zur Natur, eine Ausbildung zur Kräuterfachfrau und vieles mehr. „Die Idee, uns zusammenzutun, kam damals von Christine. Gestartet haben wir zu viert. Eine davon ist Birgit Schwaiger vom Rohrhof in Fieberbrunn. Sie hilft uns beim Waschen der Wolle und sie war es auch, die damals den Spinnworkshop organisiert hat“, erinnert sich Ursula.
Die Kunst des Spinnens
Nachdem der Grundstein gelegt war, folgten Wochen und Monate des Perfektionierens, bis die richtige Technik schließlich saß. „Ähnlich wie beim Autofahren hast du anfangs Mühen, alles gleichzeitig zu koordinieren“, wirft Christine einen Blick zurück und Ursula ergänzt: „Oder der Faden wird nicht gleichmäßig und viel zu dick. Außerdem mussten wir die verschiedenen Materialien erst einmal kennenlernen.“ Sind die Fäden versponnen, verarbeitet das Duo diese zu verschiedenen Produkten wie bunten Garnen, Socken oder anderen Kleidungsstücken weiter. Mittlerweile sind Christine und Ursula damit auf zahlreichen Handwerksmärkten in der Region vertreten.
Regionaler geht nicht
Apropos Materialien: Die Spinnerinnen verwenden ausschließlich Schafwolle aus der Umgebung und legen großen Wert auf die Qualität des eingesetzten Rohstoffs. „Wir haben uns ein gutes Netzwerk an Partnern aus der Region aufgebaut. Ein Großteil unserer Wolle stammt aus dem Bezirk Kitzbühel“, gibt Christine einen Einblick. Ursula hält sogar selbst vier „natürliche Rasenmäher“, von denen sie die Wolle bezieht. Ob Stein, Berg, Jura oder Schwarznasenschaf – die beiden probieren gerne verschiedenste „Haarlieferanten“ aus. Sogar Alpaka und Lamawolle wurde bereits versponnen. In Zukunft möchten Christine und Ursula ihr Repertoire um pflanzliche Materialien wie Flachs oder Hanffasern erweitern. Ihre Spinnräder erhielten die beiden engagierten PillerseeTalerinnen von Verwandten und Bekannten. Ursulas erstes Spinnrad war beispielsweise ein Fundstück auf dem Dachboden ihrer Urgroßmutter. Inzwischen hat sie sich ein neues – produktiveres – gegönnt. „In vielen Häusern und Bauernhöfen findet man noch alte Spinnräder. Das sind wertvolle Schätze, die keinesfalls weggeworfen, sondern vielmehr restauriert oder weitergegeben werden sollen“, so Christine. „Meiner Meinung nach sind Spinnräder bedeutende Gebrauchsgegenstände, die nirgends einfach so als Deko stehen sollten“, gibt Ursula zu bedenken.
Als Spinnen noch Old-School-Dating war
Das Spinnen ist eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit. Seit Jahrtausenden werden Fasern zu Fäden versponnen, um damit Stoffe herzustellen. Auch die beiden leidenschaftlichen Handwerkerinnen aus dem PillerseeTal wissen etliche überlieferte Anekdoten aus der Geschichte des Spinnens zu erzählen. „In unseren Breitengraden war das Spinnen früher hauptsächlich dem weiblichen Geschlecht vorbehalten. In den Wintermonaten, als keine Feldarbeit oder Ähnliches zu verrichten war, saßen die Frauen in der warmen Stube zusammen, spannen vor sich hin und unterhielten sich über den neuesten Klatsch und Tratsch“, schildert Ursula. In Zeiten ohne Fernsehen und Smartphone war das Spinnen also eine willkommene Beschäftigung, bei der das Miteinander im Vordergrund stand. Ein weiterer sozialer Aspekt des Spinnens zeigte sich beim Dating, wie Christine schmunzelnd berichtet: „Was man so hört, war es gang und gäbe, dass beim sogenannten ‚Hoangascht‘ – also wenn die Jungs ihre Angebetete besuchten – die Burschen zum Mithelfen verdonnert wurden, während die Diandln am Spinnrad saßen und ratschten.“
Weniger ist mehr
Es ist vor allem das Gefühl der Entschleunigung und der Erholung, das Christine und Ursula so sehr an der uralten Praxis schätzen. „In unserer schnelllebigen Zeit bietet das Spinnen eine großartige Möglichkeit, um abzuschalten und zu entschleunigen. Man muss sich dem Rhythmus des Rads anpassen und kommt dadurch praktisch automatisch zur Ruhe“, erzählt Christine. Ähnlich empfindet es Ursula, die das „Drehen am Rad“ ebenfalls als entspannende Freizeitbeschäftigung sieht: „Manchmal packe ich mein Spinnrad und platziere es an einem schönen, ruhigen Plätzchen in der Natur oder in meinem Haus, um ganz und gar im Flow zu sein und den Moment zu genießen.“ Außerdem erhalte man am Ende des Prozesses ja auch ein schönes Erzeugnis.
Am Ende des Prozesses erhält man schön versponnene Fäden, die zur Weiterverarbeitung bereitstehen.
Dem Zeitgeist entsprechend
Über das teilweise verstaubte Image dieses Handwerks können die PillerseeTalerinnen nur lachen. „Spinnen entspricht sehr wohl dem heutigen Zeitgeist und ist moderner denn je. Gerade jetzt, wo der Nachhaltigkeitsgedanke immer mehr in den Mittelpunkt unseres Lebens rückt und Entwicklungen wie ‚zurück zur Natur‘ vorherrschend sind, bekommen solche Praktiken wieder mehr Bedeutung zugeschrieben“, spannt Ursula die Brücke zu aktuellen Themen. „Wir sehen, dass der Trend auch in Bezug auf unsere Kleidung in Richtung ‚selbst gemacht‘ geht. Qualität steht vor Quantität und die Menschen überlegen intensiver, welche Stoffe sie wirklich auf ihrer Haut tragen wollen. Wenn wir dazu nur einen kleinen Beitrag leisten können, haben wir schon viel erreicht“, freut sich Christine. Und so drehen die beiden weiter am Rad und versuchen, die Welt damit ein klein bisschen besser zu machen.
Das Spinnen ist eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit und hat eine symbolische Bedeutung.
Das Spinnrad als Symbol
Bereits Mahatma Gandhi (1869–1948) sprach vom therapeutischen Effekt des Spinnens. Der indische Rechtsanwalt und Pazifist setzte sich für sein Konzept des gewaltfreien Widerstandes ein und strebte nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Um gegenüber der englischen Textilindustrie autonom zu werden, rief er die Bevölkerung damals dazu auf, eigenes Gewebe zu produzieren: Englische Stoffe sollten boykottiert und die heimische Wirtschaft angekurbelt werden. Gandhi, der selbst indische Baumwolle verspann, befürwortete eine einfache Lebensweise und ernannte das Spinnrad zum Zeichen eben dieser Gesinnung. Er meinte, jeder Mensch solle für sein finanzielles Wohlergehen sowie für seine seelische Gesundheit spinnen. Noch heute ziert ein blaues Spinnrad die Flagge Indiens.
„Nimm Zuflucht zum Spinnen, damit sich der Geist beruhigt. Die Musik des Rades ist Balsam für unsere Seele. Ich glaube, das Garn, das wir spinnen, ist in der Lage, die Risse im Gewebe unseres Lebens zu flicken. Das Spinnrad ist ein Symbol der Gewaltlosigkeit, auf der alles Leben – wenn es denn ein richtiges Leben sein soll – beruhen muss.“
Wie Spinnen funktioniert
Wie der Prozess des Spinnens vonstattengeht, erklären Christine Widmoser und Ursula Fliri Schritt für Schritt im Video:
Du möchtest Spinnereierzeugnisse aus dem PillerseeTal erwerben?
Wer Christine Widmosers und Ursula Fliris Produkte käuflich erwerben möchte, sollte unbedingt einen Abstecher zum jährlichen Christkindldorf am See in St. Ulrich am Pillersee (2./3. und 9./10. Dezember 2023) machen. Auf dem „Dorfplatz“ können Besucher heimischen Glasbläsern, Holzschuhmachern, Drechslern, Federkielstickern und anderen Handwerkskünstlern, welche mit Fingerfertigkeit ebenso wie mit besonderen Geschenkideen überzeugen, über die Schulter schauen. Auch die beiden Spinnerinnen sind dort mit einem eigenen Stand vertreten und bringen ihre wertvolle Handarbeit an die Frau oder den Mann. Von selbst hergestelltem Garn – gefärbt oder unbehandelt – über Heilwolle bis hin zu Socken und anderen Strickwaren finden Interessierte alles, was das Herz begehrt.
Als waschechte Tirolerin liebe ich alles, was unser wundervolles Fleckchen Erde so besonders macht: Die atemberaubende Bergwelt, die einzigartigen Traditionen und all die spannenden Geschichten, die sich dahinter verbergen. Darüber zu schreiben zählt zu meinen großen Leidenschaften. Besonders in den Bann ziehen mich „bärige“ Geschichten aus dem PillerseeTal. Mehr Details