Er läuft und läuft und läuft
Warum Thomas Farbmacher an einem Tag 5 Mal auf die Hohe Salve lief und wo er einmal als „Schaumhäferl“ durchs Ziel ging.
Der schmale Trail führt bergauf durch den Wald. Tom springt über Steine und Wurzeln, hastet vorbei an einem großen Ameisenhaufen. Er hat keinen Blick dafür, heute nicht. Er weiß, seine Verfolger sitzen ihm im Nacken. Seit vielen Stunden rennt er auf und ab, an die 70 km hat er schon in den Beinen an diesem Tag. Bald wird es kritisch. Das sagen die, die Erfahrung damit haben. Doch noch fühlt sich Tom gut und voller Energie. Wird der Einbruch ganz unvermittelt kommen? Tom hetzt weiter. Es geht bergab, er gibt Vollgas, läuft an die 17 Kilometer pro Stunde. „A Rennen g’winnt ma bergab,“ das sagt er selbst. Aufpassen jetzt, Konzentration, nur nicht über eine Unebenheit stolpern und ausrutschen auf dem feuchten Waldboden. Weiter. Tom läuft. Läuft wie um sein Leben. Aber mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Denn er fühlt sich immer noch gut, richtig gut. Irgendwann sind die Anderen nicht mehr zu sehen und zu hören, er hat den Abstand zu ihnen vergrößert. Kilometer 95 – von 102. Nur nicht leichtsinnig werden jetzt, noch ist nichts gewonnen. Es geht noch bergab, da kann viel passieren. Er könnte noch Probleme bekommen, Seitenstechen zum Beispiel. Oder Magenschmerzen. Er wäre nicht der erste Athlet, dem so etwas auf den letzten Kilometern alle Hoffnungen zunichte macht. Doch alles läuft gut, Tom läuft wie eine Maschine. Nur noch drei Kilometer bis zum Ziel. Und kein Mensch hinter ihm. Ist das möglich?
Tom wagt das Unaussprechliche kaum in Gedanken zu fassen, geschweige denn in Worte. Doch langsam beginnt er zu realisieren: Er wird dieses Rennen gewinnen. Er wird als Sieger des Zugspitz Ultratrails durchs Ziel gehen, 102 km Distanz und 5.700 Höhenmeter bezwungen haben. Die Beine laufen wie von selbst, er spürt sie gar nicht mehr. Er spürt gar nichts mehr. In seinem Kopf wirbeln die Gedanken. Wie wird es sein? Wie viele Zuseher werden da sein, Medien, Fotografen? Wie soll er durchs Ziel gehen, wie soll er dreinschauen? Wie schaut eine coole Siegespose aus? All das geht Tom durch den Kopf. Ein nie dagewesenes Hochgefühl erfasst ihn, es trägt ihn wie im Rausch den letzten Kilometer, die letzten Meter, es hebt ihn über die Ziellinie. Gewonnen. Taumelnd und überschäumend vor Freude nimmt er die Gratulationen entgegen. „In dem Moment bist einfach
Sport war nicht immer alles
So war das, als Tom letztes Jahr den Zugspitz Ultratrail gewann – als „Schaumhäferl“, wie er selbst lachend sagt. Mit einer Zeit von 11 Stunden 40 Minuten. Die Erinnerung daran zaubert ihm auch jetzt ein strahlendes Lächeln ins Gesicht. Wir sitzen bei ihm zuhause in der Küche. Spitzenathlet Thomas Farbmacher wohnt zurzeit noch bei den Eltern in Hopfgarten, doch bald will er sich gemeinsam mit seiner Freundin ein eigenes Zuhause schaffen. Tom versprüht so viel jungenhaften Charme, dass ich ganz überrascht bin zu hören, dass er immerhin schon 30 Jahre alt ist. Ich hätte ihn einige Jahre jünger geschätzt. Sport hält offensichtlich jung. Wahrscheinlich hat er schon als Knirps mit dem Laufen begonnen? „Na“, lacht Tom da, „i håb mit Sport ganz lang nix am Huat kåbt.“ Unglaublich ist die Geschichte, die er mir erzählt. Denn erst 2012, also vor 5 Jahren, hat Tom mit dem Sport begonnen. Bis dahin ist sein Weg ein ganz anderer: Er besucht die Schule in Hopfgarten und entschließt sich für eine Tischlerlehre. Nach Abschluss seiner Ausbildung absolviert er seine Monate beim Bundesheer und entschließt sich 2007, gemeinsam mit seinem älteren Bruder Stefan im Rahmen von „KFOR“ 7 ein paar Monate im Kosovo zu dienen. Ihre Aufgabe dort ist es, Serben und Albaner davon abzuhalten aufeinander loszugehen. Dörfer und Städte sind nach den kriegerischen Auseinandersetzungen zu dieser Zeit noch zerbombt, alles ist desolat, der Wiederaufbau erst im Anlaufen. Die Menschen im Kosovo sind arm – und dankbar, dass junge Männer wie er und sein Bruder da sind, um für Sicherheit zu sorgen. Tom nimmt von diesen Monaten viel mit für sein Leben. Vor allem die Dankbarkeit, dass es ihm daheim so gut geht, dass er einen so hohen Lebensstandard genießt.
Marathon – einfach so
Er lässt es sich gut gehen. Tom ist ein richtiger Partytiger. Er raucht, trinkt nicht wenig Alkohol. Manchmal schlägt er sich gleich drei Nächte hintereinander um die Ohren – und bringt seine Mutter damit fast zur Verzweiflung. Tom beweist Ausdauer. Und denkt bis 2012 nicht im geringsten daran, sie in anderer, eventuell sinnvollerer Weise zu nützen. Bis ihn eines Tages ein guter Freund auffordert, doch mal mit ihm laufen zu gehen. Der Freund will den Marathon in Wien bestreiten und 14 Tage davor als Training einen 15 Kilometer-Lauf absolvieren. Tom soll ihn begleiten. Warum nicht?, denkt sich der Partytiger. Insgeheim hat er den Freund nämlich schon länger für dessen Sportlichkeit bewundert. Er ist zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt. Alt genug für die Einsicht, dass das Leben keine Partymeile und es irgendwann vielleicht Zeit ist, einen anderen, etwas gesünderen Lebenswandel zu führen. Er geht also mit. Spult die 15 Kilometer ganz locker ab. So locker, dass sein Freund sagt: „Mach doch mit beim Marathon!“ Ja, klar. Toms Bruder Stefan lacht ihn aus, als ihm Tom von seinen Plänen erzählt. Er ist selber schon Marathons gelaufen und weiß, wie viel Vorbereitung es braucht. Doch Thomas lässt sich nicht beirren. Auf ein weiteres Training pfeift er, „des nutzt 14 Tåg vorher sowieso nix mehr.“ „Wirst sehn, spätestens bei Kilometer 30 bist am Ende,“ prophezeien Freunde. Doch bei Kilometer 30 löst sich Tom von seinem Partner, denn der läuft ihm eigentlich zu langsam. Er schafft den Wien-Marathon ohne jede Vorbereitung in einer Zeit von 3 Stunden 50 Minuten. Irre. Unglaublich. Niemand kann verstehen, wie das möglich ist. Nur Tom selbst wundert es nicht, es ging ja so leicht. Nur dass er danach zwei Wochen lang kaum mehr gehen kann – Muskelkater.
Dennoch hat er Feuer gefangen. Tom beginnt zu trainieren. Er geht regelmäßig laufen und irgendwann denkt er sich: Warum nicht auch mal bergauf? Die Straße hinter seinem Elternhaus führt direkt hinauf auf die Hohe Salve. Andere beginnen mit kleineren Steigungen, Tom stürmt gleich ganz hinauf auf den Gipfel. Toll ist das, da oben zu stehen, seinen Herzschlag zu spüren, die Aussicht zu genießen. Tom läuft nur mehr Trails im Gelände, bergauf, bergab, meist trifft er dabei keine Menschenseele. Beim Laufen findet er zu sich selbst.
Tom wird ehrgeizig
Er nimmt am Karwendelmarsch teil, 50 km Strecke und 2.300 Höhenmeter. 6 Stunden 22 Minuten braucht er dafür, richtig ausgepowert ist er danach nicht. Den Wien Marathon schafft er 2013 – diesmal mit Training – in 2 Stunden 49 Minuten. Den Karwendelmarsch 2015 bewältigt er in 4:21 h und wird damit Dritter von über 1000 Teilnehmern. Längst hat er für sich herausgefunden, dass er lieber länger und langsam läuft als kurz und schnell. Längst hat er auch mit den Rauchen aufgehört, und Alkohol gibt es nur mehr in Maßen. Längst ist er süchtig geworden nach der Bewegung, nach den Endorphinen, die der Körper ausschüttet. Tom wird richtig ehrgeizig und startet bei immer größeren Wettbewerben, zum Beispiel auf den Azoreninseln oder beim Trans Alpine Run, dem größten Etappenrennen der Welt. Es führt in 7 Tagen durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Dabei gehen nur 2er Teams an den Start, er macht sich mit dem Zillertaler Peter Fankhauser auf den Weg. Das Resultat: Sie werden fünfte von 350 Teams.
Inzwischen arbeitet Tom bei der Tischlerei Decker in Itter, und sein Arbeitgeber unterstützt ihn nach Möglichkeit. Mit Salomon hat der Hopfgartner einen Hauptsponsor gefunden. Er kann es sich leisten, nur mehr halbtägig zu arbeiten und professionell nach Plan zu trainieren. Wenn man stundenlang durch die Gegend läuft, wird einem da nicht langweilig? „Na, i bin ja immer in der Natur unterwegs, da gibt’s immer was zu schau’n. I låss mi treiben, laf einfåch und entscheid’ unterwegs, wohin es geht.“
Die Hohe Salve, Toms „Zauberberg“
Die Hohe Salve ist Toms Hausberg, sehr oft auch sein Ziel. Als er einmal bei Wirt Peter Ager (eine Geschichte über ihn findet ihr ab Seite ….) beim Frühstück sitzt, fragt ihn jener, wie oft im Jahr er eigentlich den Gipfel erklimme. Tom weiß darauf keine Antwort, schreibt dann aber mit. 96 Gipfelsiege auf der Hohen Salve sind es im darauf folgenden Jahr – Tom läuft, fährt mit dem Bike oder läuft mit den Tourenski hinauf. Gehen (wie Normalsterbliche) kommt auch mit Tourenski an den Füßen für ihn natürlich nicht in Frage. Und auch das wird nicht langweilig? „Na, denn oben is’s jeden Tåg ånders. Einmal is’s sonnig, dann neblig, einmal blüht ois, dann wieder liegt Schnee, …“ Am Gipfel der Hohen Salve angekommen, folgt Tom einem Ritual, das er sich angewöhnt hat: Er dreht sich um die eigene Achse, meist mit ausgestreckten Armen, als Gruß in alle Himmelsrichtungen. Die Welt von oben betrachten, wie ein Vogel im Flug. Das entschädigt für alle Anstrengungen. Die Hohe Salve ist Toms Hausberg, sie ist auch sein „Zauberberg“, der ihn immer wieder fasziniert. Seine Lieblingsplätze auf der Strecke sind die Seen, die im Winter für die Schneeerzeugung genutzt werden. Im Sommer liebt er es, sich in den Bergseen Abkühlung zu verschaffen und dabei das wunderbare Panorama zu bewundern.
Im Februar dieses Jahres nahm Tom am Trans Grand Canaria Trail teil. 125 km mit 8.000 m Höhe, quer durch die Insel. Zur Vorbereitung unternahm er viele Skitouren. „Brutal viel“, sagt er selber. 110.000 Höhenmeter waren es, dann folgte Lauftraining. 230 km insgesamt. Zu wenig, wie sich herausstellte. Schon nach 50 km spürte Tom, dass es an diesem Tag keine Spitzenplatzierung werden würde. Aber 15:52 Stunden für den Trail machten ihn dennoch extrem zufrieden und überglücklich.
Laufen für Andere
„Das Ziel ist das Ziel, die Platzierung is mir eigentlich net so wichtig,“ sagt Tom. Erfolg beflügelt. Aber er hat auch seine Schattenseiten. Er bedeutet nach 7 Jahren das Aus für die Beziehung mit seiner Freundin. Thomas hat sich sehr verändert, aus dem Partyprinzen ist ein Spitzenathlet geworden. Die Trennung setzt ihm zu. Er läuft. Und läuft. Und läuft.
Und wenn ich schon unterwegs bin, dann kann ich doch damit auch mal was Nützliches tun, denkt er sich. Er findet Sponsoren, die ihm an einem vereinbarten Tag für jeden Zieleinlauf auf der Hohen Salve einen bestimmten Betrag bezahlen. So kommt es, dass er innerhalb 10 Stunden fünfmal auf seinen Hausberg rennt. Und schließlich eine stattliche Summe an die Diakonie in Hopfgarten übergeben kann. „Des is super, wenn ma mit dem, was ma guat ku, auch amoi åndere helfen kann.“
Des is super, wenn ma mit dem, was ma guat ku, auch amoi åndere helfen kann.
Inzwischen ist Tom auch wieder schwer verliebt. Als er von Christina erzählt, fangen seine Augen an zu leuchten. Sie hat ihn als Sportler kennen gelernt, an Silvester vor eineinhalb Jahren, und sie nimmt ihn so wie er ist. Mit all dem Sport, mit all seinem Ehrgeiz. Der Sonntag gehört für gewöhnlich den beiden, das ist Toms Ruhetag. Christina ist auch sehr sportlich, aber eben in „normalem Maße“. Die beiden unternehmen am Sonntag gerne ausgedehnte Rad- oder Bergtouren. Meine Ruhetage sehen anders aus – da kommt ganz viel Sofa vor. Hat Tom überhaupt ein Sofa?
Hat er wirklich immer Lust aufs Training, aufs Laufen? Es muss doch auch Tage geben, an denen er einfach nicht mag. „Ja sicher“, sagt er. „Dann tua i a nix. Oder i leg mi aufs Sofa und schau mir a Lauf-Video an. Då håb i dann eh glei wieder de Laufschuhe an,“ lacht er. Tom weiß, wie er seinen inneren Schweinehund, der maximal ein Schweinehündchen sein kann, überwindet.
Aber was ist es, was ihn so stark macht, was ihn so viele Kilometer und Höhenmeter bei der Stange hält? Seine Antwort ist ganz einfach: „Wennst an guaten Kopf hast, kommst weit.“ Mentale Stärke, das ist es, was Tom ausmacht.
Wenn der „alte Tom“ auftaucht
Ein Ende seiner Freude am Laufen ist noch nicht abzusehen. Letztes Jahr hat er sich zum 30er quasi selbst einen Sieg geschenkt bei einem Laufevent in Südtirol. Mit Startnummer 30. Da Toms Mutter am selben Tag Geburtstag hat, wurde groß gefeiert. Die Familie gibt Tom Halt. Bruder Stefan und auch die Eltern unterstützen ihn nach Kräften und sind bei den Großevents nach Möglichkeit dabei.
Die größte Motivation ist jedoch die Natur. „Wenn i an Berg sehe und woaß, då kånn i laff’n, zum Beispiel in die Kelchsau, auf 5 Gipfel, da oben stehen und schau’n, des gibt mir alles.“
Hin und wieder taucht auch der „alte“ Tom noch auf. Dann geht er mit den Freunden aus und kommt erst frühmorgens heim. Gegen ein „G’sundheitsreischei“ sei nichts einzuwenden, meint der Spitzensportler augenzwinkernd. „Då wird ma richtig locker, nur übertreiben darf ma’s net.“ Natürlich nicht. Vor den Wettkämpfen herrscht dann ohnehin wieder Alkoholverbot. Aber das macht ihm nichts aus. Hauptsache, er kann laufen. Bergauf, bergab. Über Berge, durch Täler. Auf breiten Wegen, auf schmalen Pfaden. Bei Sonnenschein, bei Regen. Tom läuft.