Anni, die Sennerin auf der Winterstelleralm
Warum Anni weint, wenn die anderen jauchzen und weshalb ein Ritt auf der Kuh manchmal die einzige Lösung ist.
Beim Aufstieg auf das Kalkstein-Plateau muss ich mich immer wieder umdrehen: Das Kitzbüheler Horn ist wirklich zum Greifen nahe. Und dann ist es erreicht, das Plateau. Ich muss erst einmal tief Luft holen, um die Schönheit dieses Platzes zu verkraften, sie haut mich fast um. Ich strecke die Arme aus, drehe mich langsam um meine eigene Achse. Ein Blick in die Bergwelt ringsum ist beeindruckender als der andere. Die Ostseite des Wilden Kaisers habe ich so noch nie gesehen, faszinierend.
Länger als geplant verweile ich, fühle mich wie im Himmel. Aber irgendwann muss ich mich doch losreißen, schließlich möchte ich noch bei Anni Waltl auf der Winterstelleralm einkehren. Vielleicht macht sie für mich ihren berühmten Kaiserschmarrn, dessen geheimes Rezept sie wie einen Schatz hütet.
Ich glaube fast, ich hab den köstlichen Duft schon in der Nase, als ich das Dach der Hütte ausmachen kann. Und da ist auch schon die fesche Hüttenwirtin und Sennerin mit ihren blonden Haaren und den geheimnisvollen grünen Augen. So zierlich sie wirkt, verraten ihre Hände doch, dass sie hart anpacken kann.
Ich habe Glück. Ich bin gerade der einzige Gast, deshalb hat Anni Zeit für den Kaiserschmarrn und Zeit, mir ein wenig aus ihrem Leben zu erzählen. Ich staune nicht schlecht, während ich mir den sagenhaft flaumigen Schmarren schmecken lasse.
Tiere sind die besten Freunde
Anni ist 54 Jahre alt, eine waschechte Fieberbrunnerin und auf dem Edenhausen-Hof auf 1000 m Seehöhe aufgewachsen. Mit Bergbauernromantik hat ihr Leben nicht viel zu tun. Die Mutter bringt 9 Kinder zu Welt, zwei Buben sterben. Einer gleich nach der Geburt, der kleine Seppi ertrinkt mit viereinhalb Jahren in einem Bach. Er wird an Annis zweitem Geburtstag beerdigt. Die Mutter hat selbst eine schwere Kindheit hinter sich, wurde geschlagen und verprügelt. Von dem, was sie erlebt hat, erholt sie sich nie ganz. Der Tod der beiden Söhne lastet zudem schwer auf ihrer Psyche. Mit 68 Jahren wird ihr alles zu viel, sie scheidet freiwillig aus dem Leben. Vor 11 Jahren war das. „Es is, als hätten’s mei Herz g’numma und aussag’rissen,“ sagt Anni.
Wie ihre Geschwister, muss auch Anni am Hof kräftig mitarbeiten. Ihre Hände sprechen Bände. Sie erledigt Stallarbeit, geht Holz arbeiten, bringt Heu ein, arbeitet wie ein Mann. Nur jeden zweiten Winter geht sie als Kellnerin auf Saison, sie wird vor allem als Arbeitskraft daheim gebraucht. 100 Stück Vieh haben sie damals schon auf dem Edenhausen-Hof, dazu Schweine, Ziegen, Hühner und sonstiges Getier. Und die Tiere sind es auch, die Anni über die Zeit helfen, ihr Glück und Freude schenken. „De Viecha wåren für mi immer schon wia Freunde. De losn da zua, sand nit bös.“
Anni und die Männer
Mit 22 verliebt sich die fesche Blondine in einen Musikanten, sie wird schwanger. Die Beziehung hält nicht, doch Florian, heute 32, bereitet der Mama und auch der Oma viel Freude. „Vom Musikanten håb i nur des Souvenir dahoam“, kann Anni darüber lachen.
Beim nächsten Mann soll alles ganz anders werden. Und doch funktioniert es wieder nicht. Wieder wendet sich Anni mit ihren Kindern an die Mami, wieder ist die Mami für sie da.
„Bei de Blumen und bei de Viecha håb i a guade Hand, owa bei de Leda håb i går keine“, zuckt Anni die Achseln.
Im Sommer geht Anni mit den Kindern „Genoim“. Sie genießt die Zeit in der Abgeschiedenheit der Natur, auch wenn es oft „a G’wirg“ ist mit dem Nachwuchs und der Arbeit mit den Tieren. Als die Kinder in die Schule kommen, muss die Sennerin die Almsommer aufgeben. Aber sobald sie ausgelernt haben, gehe ich wieder auf die Alm, schwört sie sich. Und so ist es auch. Heuer wird sie zum 5. Mal auf der Winterstelleralm in St. Ulrich die Tiere betreuen und Gäste bewirten.
Inzwischen hatte sie auch wieder einen Freund. Ihre Augen leuchten kurz auf, als sie von ihm spricht. Aber die Beziehung steht von Anfang an unter keinem guten Stern. „I håb ja g’wusst, dass er verheiratet is“, sagt Anni. Aber das Herz folgt eben ganz anderen Regeln als der Kopf. „Er håt oben die Jagd, is zu mir hinkemma, des håt sich so ergeben,“ sagt sie leise. Jetzt ist die Sennerin wieder alleine. „Mei,“ seufzt Anni, „es kimb åft scho wieder Oana.“ Und ich kann mir nicht verkneifen zu sagen: „Ja, ja, es kimb åft scho wieder a G’feida“, und wir lachen beide herzlich. Anni hat sich ihre Fröhlichkeit bewahrt, da kann kommen, was will. Da kann kommen, wer will.
Freud und Leid
Auf der Alm ist sie deshalb so gerne, weil sie es liebt, Tiere um sich zu haben, für sie zu sorgen. „Mit de Viecha håb i de besseren Erfahrungen g’måcht als wia mit de Leit.“
70 Kälber, Kalbinnen und Mutterkühe hat sie zu versorgen. Alle müssen jeden Tag durchgezählt werden, die Kälber kommen täglich in den Stall. Wenn sie im Frühling die Rinder übernimmt, sagt sie zu den Bauern: „So, jetzt sind sie den Sommer über die Meinigen“. Die Bauern hören das nicht gerne, aber für Anni ist es so. Natürlich kennt sie jedes Kälbchen, jede Kalbin beim Namen und weiß welche Eigenheiten jede hat. Es sind alles „die ihren“.
Wie weh tut es ihr, als sie davon erzählt, dass sie schon ein paar Stück Vieh verloren hat. Meist durch Steinschlag. Als sie erzählt, wie sie bei der schwer verletzten Kalbin geblieben ist, ihr zu trinken gab und Wasser auf die offene Wunde goss, um es ihr leichter zu machen, sie tröstete und ihr gut zusprach, leide ich mit. Und als sie davon erzählt, wie der Tierarzt forderte, das leidende Tier noch lebend ins Tal zu bringen, weil es so im Gesetzbuch steht, erfasst auch mich ein ungeheurer Zorn. Doch Anni kämpft wie eine Löwin für ihre Lieblinge und setzt es durch, dass die verletzten Tiere noch an Ort und Stelle von ihrem Leiden erlöst werden. Ich kann mir bildhaft vorstellen, wie die zarte Anni in solchen Momenten über sich hinaus wächst, groß und hünenhaft wird.
Auf die Kuh gekommen
Dabei ist sie nicht zimperlich im Umgang mit ihren Schützlingen. Auch wenn sie ihnen liebevoll über den Rücken streicht und ihnen schmeichelnde Worte ins Ohr flüstert – sie kann auch zupacken, wenn es gilt. Das beweist diese Geschichte: Einige Kalbinnen litten letztes Jahr an einer Klauenkrankheit.
Anni muss die Tiere in den Stall bringen. Dort verabreicht ihnen die Tierärztin an drei Tagen hintereinander eine Spritze. Ein ziemlicher Aufwand, immer die Tierärztin kommen zu lassen, befindet Anni, und die Bauern sehen das auch so. Sie sind damit einverstanden, dass Anni ihnen selbst die Spritze gibt. Gesagt, getan. Allerdings ist eine Kalbin nicht sehr kooperativ, sie versetzt zuerst der Tierärztin, dann auch Anni einen kräftigen Stoß. Deshalb überlegt sich die Sennerin für den dritten Tag eine andere Lösung: Sie setzt sich kurzerhand rittlings auf die Kalbin und gibt ihr die Spritze von oben. „Ausgschlåg’n håt’s scho, aber erwischt håt’s mi da oben nit,“ meint Anni schelmisch. Und ich muss herzlich lachen bei dem Bild, das ich in meinem Kopf habe. Anni auf der Kuh reitend, die Spritze in der Hand. Zum Brüllen.
Vielleicht hätte Anni überhaupt Tierärztin werden sollen, Erfahrung hat sie ja jede Menge. Schon als junges Mädchen kastriert die Tierliebhaberin daheim am Hof die männlichen Ferkel. Das Schweinchen zwischen die Beine geklemmt, Köpfchen nach unten, Beinchen nach oben und auseinander gespreizt, ein schneller Schnitt mit der Rasierklinge, die Bällchen raus, mit der Feder etwas Steinöl in die Wunde gestrichen, und schwups, das Ferkelchen saust wieder davon. Das geht bei allen gut, außer bei einem. Das hat nämlich einen Leistenbruch, wie Anni beim Aufschneiden feststellt. Also musste es genäht werden. Zwei, drei Stiche und der Fall ist erledigt. Allerdings näht sie wohl unabsichtlich ein Stück Darm mit an, das durch den Leistenbruch verrutscht ist. Das Ferkel überlebt nicht. Operation gelungen, Patient tot.
Schweinestory
Als sie vom Kastrieren der Ferkel erzählt, fällt ihr eine andere „schweinische“ Geschichte ein: Sie ist 18 Jahre alt, hat gerade den Führerschein gemacht, als sie mit einer „Ferkelsau“ zum „Bär“ (zum männlichen Schwein) nach Hochfilzen fährt, um sie belegen zu lassen. Doch als Anni unterwegs mit einem jungen Mann flirtet, macht sich die Sau selbständig und flüchtet aus dem Anhänger. Anni findet sie mitten auf den Gleisen der Bahnlinie stehend. Natürlich versucht sie, das große, schwere Tier wegzuschieben, doch vergeblich: Die Sau ist ja „primig“, also bereit für den Liebesakt. Je kräftiger Anni hinten schiebt, desto mehr hält die Sau dagegen. Und grunzt wohlig.
Erst als Passanten kommen und helfen, kann sie das Schwein wieder verladen. Beim „Bär“ angekommen dann die nächste Aktion: Das störrische Vieh nimmt wieder Reißaus und springt quer über das Feld davon. Anni hinterdrein. Dann der „Bär“, der zur Sau will, und danach der Bauer. Es muss ein Bild für Götter sein. Vorbeifahrende Grundwehrdiener halten sich die Bäuche vor lachen. Als die Sau dann endlich angebunden ist, muss Anni dem „Bär“ auch noch helfen und mit Hand anlegen, damit das was wird. Aber es zahlt sich aus: Die Sau bekommt 24 Ferkel.
Es ist Nachmittag, ein kühler Wind kommt auf. Bald muss Anni zu den Kalbinnen hinauf und nach dem Rechten sehen. Zum Glück ist diesmal keine trächtige Kuh dabei, die sich anschickt, auf der Alm zu kalben. Auch das kommt immer wieder vor. Einmal hat Anni das neugeborene Kälbchen von der anderen Bergseite herübertragen müssen. Klein war es „wia a Katzei“, aber schwer ist es doch geworden den langen Weg bis zur Hütte. Anni schaffte es damals mit Müh und Not, das neu geborene Kälbchen samt der Mutter in den Stall zu bringen, bevor sie selbst zusammenbrach. Bei Überanstrengung hat sie manchmal Unterzucker und braucht dann selbst Hilfe. Zum Glück waren Gäste da.
Abschied tut weh
Im August organisiert Anni jedes Jahr eine Almmesse. Dann kommen viele Leute, es wird gesungen und musiziert. Sie spielt dann auf der Zugin auf. Sie mag es, wenn es lustig hergeht und freut sich, wenn nette Leute da sind. Am lustigsten ist es wohl mit den Nachbarjägern, die Sie immer wieder aufsuchen. Aber zur gewissen Zeit wirft sie abends auch die Jäger raus, denn sie muss ja früh aus den Federn, nach den Kalbinnen sehen. Im Herbst kommt dann der Tag, an dem es Abschied nehmen heißt. Anni begleitet die Tiere ins Tal, übergibt sie den Bauern. „Jetzt sands wieder eure.“ Sie geht dann zum Wirt. Während die anderen beim Almabtrieb jauchzen und jubeln, lässt sie traurig den Kopf hängen und schaut ins Glas. Tief ins Glas. Irgendjemand bringt sie dann wieder hinauf auf die Alm, und dann fließen die Tränen. Stundenlang.
Bis Oktober, je nach Witterung, bleibt Anni noch ohne Rinder auf der Alm. Aber noch lange nach Almabtrieb hört sie die Glöckchen in ihrem Ohr, schreckt mitten in der Nacht auf und meint, die Kalbinnen seien da. In diesen Momenten fühlt sie sich sehr allein.
Untertags aber hat sie keine Zeit dafür, den Tieren nachzutrauern. Es kommen ja Gäste, so wie ich, und es gibt immer viel zu tun. Deshalb überlasse ich Anni jetzt auch ihrem Tageswerk und mache mich auf ins Tal. Mit einem Rucksack voller Geschichten …
TEXT: Doris Martinz / FOTOS: TVB PillerseeTal
ERSCHEINUNGSTERMIN: Mai 2016