Das Hauptplatzl und der Sepp
... und was die beiden „Sainihanser“ so alles erlebt haben.
Um etwas über den Hauptplatz zu erfahren, verwies mich Mag. Peter Fischer, Kulturreferent in St. Johann, an Herrn Ing. Josef Wörgötter, der vom Museums- und Kulturverein als langjähriger Heimatforscher geehrt wurde, und der seine Lebenserinnerungen auch in seinem Buch „Sommerfrei“ niedergeschrieben hat. Der bald 95-jährige spaziert täglich ins Dorf zum Stammtisch, auch zum Huberbräu-Turmstüberl hoch über den Dächern St. Johanns. „Mit Freund‘n a netter Hoagascht, des g’fallt mir“, erzählt er. „I mag halt die Leut“. Von da oben sieht man gut zum Hauptplatz runter, der Pulsschlag der Marktgemeinde – da, wo sich Einheimische und Gäste treffen, etwas trinken, speisen, shoppen, die Kirche besuchen, wo‘s übers Jahr viele Veranstaltungen und Märkte, wie den Bauern-, Wochen- und Weihnachtsmarkt gibt, wo Musikanten und Trachtenvereine aufmarschieren und wo sich Tausende am längsten Knödeltisch der Welt laben.
Giselabahn bringt Fremdenverkehr
Bevor Sepp 1922 zur Welt kam, spielte sich im Zentrum von St. Johann viel ab. Im 4. Jh. v. Chr. kommen die Kelten, dann die Römer, die Region fällt den Ostgoten zu, später dem Herzogtum Bayern. Im 8. Jh. errichten Missionare eine Taufkirche, von der sich der Name St. Johann ableitet. Schließlich fällt der Bezirk abwechselnd an die Bayern bzw. die Tiroler. Kupfer- und Silberbergbau bei Oberndorf macht den Ort reich, barocke Kunstwerke entstehen. Die Schützen Andreas Hofers rebellieren gegen die Herrschaft, und Mitkämpfer Josef Speckbacher richtet sein Hauptquartier im „Gasthof zum Bären“ ein. 1814 fällt die Grafschaft Tirol endgültig an Österreich, 1875 nimmt durch den Bau der Giselabahn der Fremdenverkehr seinen Anfang. Auch Sepps Vater arbeitet an der Verlegung des zweiten Bahngleises mit.
„Wenn i im Alter was vergiss“, sagt Sepp, „kann i in meinem Buch nachlesen.“ Im Vorwort schreibt Hans Wirtenberger, dass sich die Geschichtsforschung mittlerweile auch damit befasst, wie „einfache Leute“ ihren Alltag bewältigten. Lebensbilanzen von Zeitzeugen, deren Kindheit und Jugend, beschreiben eine Welt, die es nicht mehr gibt. Mit einigen, kleinen Freuden und Erlebnissen des Buben Sepp reisen wir zurück in die alte Zeit …
„Meine Generation und die unserer Eltern haben nicht nur ein oder zwei Menschenalter erlebt, sondern mehrere“, sagt Sepp, weil es in Wirtschaft, Arbeitswelt und Sozialwesen mehr Veränderungen gab als zuvor in Jahrhunderten. Josef Wörgötter wird in Wörgl geboren und kommt mit eineinhalb Jahren nach St. Johann. Sepps Erinnerungen reichen bis zum 4. Lebensjahr zurück, an starke Gewitter, die Hochwasser-führende Ache und knietiefes Grundwasser. Aufregend waren für die Kinder etliche Brände, etwa am Hauptplatz jener des Gasthofs Mauth, Weihnachten 1927. Bald drauf, „sind wir ausgestiftet worden“, erzählt Sepp, sprich, weil ihre Mutter arbeiten muss und der Vater vorübergehend arbeitsunfähig ist, kommen er und seine Schwestern über die Saison zu Pflegeplätzen. Die Jüngste erwischt es wunderbar, doch Sepp und die Ältere leiden bei zwei Kleinbauern nahe der bayrischen Grenze. „Die Bäurin hat uns zur Grenze g’schickt und wir haben den aus Bayern hereinspazierenden Fremdengästen ‚Grüß Gott‘ sagen müssen“. Für einige Blumen und die gereichte Hand gab’s oft ein 10-Pfennig-Stück, für die geldknappe Zeit nicht wenig. „Manchmal simma als Bettlpack beschimpf worden und ham uns g’schämt“. Das Geld mussten sie bis auf den letzten Pfennig abliefern. „Wenn es wenig war, hat die Bäurin g’schimpft“. Im selben Jahr übrigens verstirbt ein Sainihanser Original, das ebenfalls Gäste empfing, nämlich die mit Zügen ankommenden Sommerfrischler und Wintersportler: Josef Manzl beförderte als Dienstmann ihr Gepäck mit einem Pritschenwagen, in den sein großer Hund eingespannt war und den seine Frau schob, zu den Quartieren im Dorf!
Zur Volksschule hinter der Pfarrkirche geht Sepp vom einen Kilometer entfernten Wohnort zu Fuß. „Die Reichen ham uns beneidet, weil wir barfuß gehen durften“, erzählt er. „Die Schul war für mi was Schönes“. Am Hauptplatz ist der Jahresablauf der Einheimischen damals stark vom kirchlichen Brauchtum geprägt. Ostern war der erste Höhepunkt. „Am Palmsonntag is jeder Bua friah aufg’standen, weil keiner der ‚Palmesel‘ sein wollt“, also der Letzte in die Kirche kommende.
Freude über den Feuerschwamm
Am Karsamstag dann die „Feuerweihe“. „Da hat der Mesner vor der Kirch den Scheiterhaufen angezündet. Jeder von uns Buben hat einen dicken Draht mit einem Feuerschwamm in die Glut des geweihten Osterfeuers g’halten“. Die Glutstückchen bringen sie zu Bauernhöfen, wo man hoffte, damit ein Stück Segen zu erhalten. Dafür gab‘s ein wenig Geld, vielleicht ein gefärbtes Osterei. Um 15 Uhr sind die Buben zurück in der Kirche, wo sich das Heilige Grab öffnet, die Christusfigur herauskommt und der Chor unter gewaltigen Orgelklängen das Lied „Der Heiland ist entstanden“ anstimmt. Bei der Graböffnung musste Sepp oft an den tragischen Tod seiner geliebten Schwester Elsa denken. „Sie ist mit 5 Jahren an Masern gestorben“, erzählt er betroffen, und kriegt die Bilder nicht aus dem Kopf, als sie um Wasser bettelte, aber der Doktor ihr nur die Lippen befeuchtete. „Des tut ma heut no weh, dass i ihr nix zu trinken geben hab“. So führte ihn damals das furchtbar traurige Begräbnis in die Ortsmitte. Und im Nachhinein bedauert Sepp immer noch, dass er aufgrund dieses schrecklichen Vorfalls nie Medizin studiert hat.
Auch „Christi Himmelfahrt“ lockte das Volk ins Zentrum, wo die Christusstatue diesmal, von Engeln umtanzt, drehend zur Kirchendecke emporschwebte. Sepp erinnert sich auch an den Erstkommunionstag, „an die schönen, weißen Kleider und Schleier der Mädchen“, aber auch dran, dass er da um Vergebung seiner Sünden bitten musste. Weniger Zuschauer als Prozessionsteilnehmer kommen damals an Fronleichnam zum Hauptplatz, denn die meisten Dörfler gehen mit. „Für uns Volksschüler war es das letzte Fest vor der arbeitsreichen Sommer- und Erntezeit“.
Lausbuben-Ohrwaschl in Gefahr
Im Herbst freute sich die Jugend auf die Almabtriebe. „Wir ham die g’schmückten, glockenbimmelnden Kühe vom Schulfenster aus beobachtet“. Der Melker reichte die „Schnapsglocke“, die Obstler-Flasche, herum. Um ihren Mut zu beweisen, versuchten die Buben von den Almbuschen auf den Kuhhäuptern möglichst viele bunte Papierbänder zu „rupfen“, wobei die Viehtreiber beim Austeilen von Schlägen nicht zimperlich waren. Meisterprüfung war der Klau der weißen Hahnenfedern. Als eine Kuh just vor Klein-Sepps Füßen ein Maul voll Gras frisst, sind die Federn schon die seinen und der stockschwingende, schimpfende Treiber kann ihn nicht mehr erwischen. Gutgegangen, doch ein halbes Jahr später kommt Sepp zur Landwirtschaftshilfe just an den Hof, wo sein Jäger dahoam ist. „Du bist der Lausbua, der mir den schönen Buschen g’rupft hat! I reiß dir die Ohrwaschln aus!“
Dann der bunte Kirchtag am Hauptplatz mit dem Kirchtagessen. Hier ist zu erwähnen, dass Sepp immer schon gern den Bauern beim Kuhhüten, Wassertragen, Kartoffelauslesen, usw. half, und mit 10 Jahren als „Viehfohra“ beim Heuaufladen das Pferd am Zügel führte. Damals ist Selbstversorger-Getreidebau üblich. „Normalerweise war der Sommerlohn für einen Viehfohra die Kost und fallweise etwas an Naturalien. In bester Erinnerung ist mir ein Markttag, wo mir ein Bauer aus Freude über den guten Viehverkauf 5 Schilling Treiberlohn gab, in der Zeit eine Handwerkerschicht. Im Gegensatz zur normalen, einfachen Kost gab‘s hier beim Kirchtagessen bis zu 10 Gänge, vom Beuschel bis zum Apfelküchl mit Honig. Mir is davon aber sterbensübel g‘wordn“.
Doch gefeiert wird immer weniger. Und Bettler vor dem Dampflwirt kündigen schwierigere, gefährlichere Zeiten an. Richtig düster wurde es im Dezember. „Scho Tag vorm Nikolausabend war es rund ums Hauptplatzl bei einbrechender Dämmerung richtig unheimlich. Da hat uns jedes Kettengerassel von den sich umtreibenden Krampussen, die teuflischen Begleiter vom Heiligen Nikolaus mit Kette, Ruckkorb und Rute, in Angst und Schrecken versetzt. Zurecht, weil bei meinem Sündenregister die Drohung, in den Korb g‘steckt zu werden, scho ernst zu nehmen war“.
Je heiliger die Zeit, desto böser die Leut‘
Ansonsten war der Advent tatsächlich die ‚stillste Zeit im Jahr‘, kaum ein lautes Fahrzeug auf den Straßen, höchstens das Klingeln von „Schellkränzen“ der Schlittenpferde. „I hab die Zeit a deshalb in so geheimnisvoller Erinnerung, weil wir dahoam erst nach 1930 elektrisches Licht kriegt ham“. Bis dahin diente die Petroleumlampe. Auch die Stimmung des Heiligen Abends ist Wörgötter noch gegenwärtig, weil es alljährlich am Vormittag zwischen der nachbarlichen Hausfrau und ihrem Mann zum Streit kam, auch wenn es stets nur um Lappalien ging. „Je heiliger die Zeit, desto böser die Leut“, lautet ein alter Spruch.
Nach dem bescheidenen Christkindl „ham wir in die Mitternachtsmette mitgehen dürfen“. In der Kirche war Sepp beeindruckt vom festlichen Glanz, „aber es hat mich g’wurmt, dass sie mich als eifrigen Schüler nie g’fragt ham, ob ich Ministrant sein will“. Dabei ging es nicht nur um die Ehre sondern auch um die Verdienstmöglichkeit von ein wenig Kleingeld. „Gegen die Ministranten waren wir normale Kirchgänger arme Schlucker“.
Ein Brauch hält sich wunderbarer Weise bis heute – der einstige „Fas(t)markt“ am ersten Samstag nach dem Aschermittwoch. Da gab es weit weniger Stände als heute am„Krämermarkt“, aber „Wir sind glücklich g’wesen, wenn’s an Türkischen Honig oder Kastanien als Markt abge’ben hat“.
Der Wille schafft mehr als die Kraft
Bald ging Sepps Schulzeit dem Ende zu. Mit 13 Jahren und gutem Schulzeugnis konnte man inklusive Ferien 6 Monate bei einem Bauern arbeiten, genannt ‚Sommerfrei‘. Dies war der Beginn von Sepps beachtlichem landwirtschaftlichen Berufsaufstieg. Nach seiner vielfältigen Arbeit auf den Höfen lernt der Nicht-Bauernsohn als jüngster Schüler an der Landwirtschaftlichen Lehranstalt Rotholz. Nachdem er zum zweiten Weltkrieg einberufen wird, wo ihn zwar ein Granatsplitter langwierig verwundet, er aber doch glücklicherwiese überlebt, holt Wörgötter die Matura nach. Schließlich erlebt er als Berater der Bauernschaft im Bezirk und als Bezirkssekretär der Landwirtschaftskammer die Höhepunkte seiner Laufbahn. Seine Frau Dora lernt er 1952 beim Skifahren in der Standseilbahn näher kennen. „Darf ich mich den Damen anschließen?“, fragte er sie und eine Bekannte. Der Anschluss mündet in die Heirat und in drei gemeinsame Kinder.
Auch St. Johann bleibt im Zweiten Weltkrieg weitgehend von Zerstörungen verschont. 1956 wird der Ort zur Marktgemeinde erhoben. Ab den 1950ern erleben Tourismus, Handel und Gewerbe einen Aufschwung, und in den 90ern wird auch der Hauptplatz durch die errichtete Fußgängerzone um vieles attraktiver. Josef Wörgötter erwarb sich auch in der Gemeinde große Verdienste. Er war stets ein zäher Kämpfer, schon als junger Bursch beim Bergauftragen von 1.000 Kilo Futtermittel über den Almsommer mit der ‚Kopfkraxe‘: „Des war a diam so zach, dass i vor lauter Zorn fast great hu. Aber der Wille schafft mehr als die Kraft!“ Als weiteres Rezept für sein erreichtes Lebensalter von bald 95 nennt er Dankbarkeit, auch dafür, dass er alles, was er erlebt hat, auch überleben durfte.
Sepp, Freund guter Volkslieder, liebt auch das Musizieren, etwa bei den „Gmiatlichen“. Das Leichtlebige hat er von den Sainihansern angenommen, die manchmal auch als ‚St. Johanner Kren‘ bezeichnet werden, in Anspielung auf die Wurzel mit der ‚gesunden Schärfe‘. Dass man mit ihnen Spaß haben kann und sie nicht alles todernst nehmen, schätzt er, auch wenn er mit einigen oben im Türmstüberl hockt und auf seinen Ort runterschaut. „Die bauliche Entwicklung in St. Johann und das Hauptplatzl, das g’fallt ma wirklich sehr guat“, schwärmt er. Der Museums- und Kulturverein beschrieb ihren fleißigen Mithelfer mal mit den Worten: „Lieber Sepp, wir haben in dir an b’sundan Mann, der ganz vui woas und sehr viel kann, a insan Ort so mitgeprägt, dass si a in der Kultur was regt“.
Sepp Wörgötter ist im Dezember 2016 leider verstorben.
TEXT: EDUARD EHRLICH & JOSEF WÖRGÖTTER
FOTOS: KERSTIN JOENSSON, FRANZ GERDL, PRIVAT, MUSEUM ST. JOHANN
ERSCHEINUNGSDATUM: NOVEMBER 2016