Prächtige Rösser, stolze Reiter
Warum Pep Schiessl beim Antlassritt immer einen Kabelbinder dabei hat und wonach Hans Schipflinger beim Reiten Ausschau hält.
Er legt die Hand an die Stirn, um nicht von der Sonne geblendet zu werden. Angestrengt späht er in die Ferne. Hier, vom Kirchenturm aus, ist er der erste, der sie kommen sehen wird. Es muss jeden Augenblick so weit sein. Da! Schon kann er ihn mit freiem Auge ausmachen, den Zug der Reiter, der sich dem Ort auf der Bundesstraße nähert. Schnell springt der Messner die Stufen hinab, um die Glocken der Kirchberger Kirche zu läuten. Wenn sich die Reiter auf der Bockinger Höhe befinden, müssen sie im Dorf von Glockengeläute angekündigt werden, so will es der Brauch. Damit alle wissen: Die Antlassreiter sind bald da.
Wenig später treffen sie auf ihren prächtig herausgeputzten und geschmückten Rössern ein. Stolz und aufrecht sitzen sie im Sattel, in ihrer Brixentaler Tracht mit dem langen braunen Haftlrock, die rot-weißen Fahnen haltend. Auch ihre Rösser wölben stolz die Brust, blähen die Nüstern und tänzeln durch die Menge, die links und rechts der Straße ein Spalier bildet. An die 50 bis 70 Reiter aus Kirchberg, Brixen und Westendorf sind es, die jährlich am Fronleichnamstag beim Antlassritt dabei sind. Ein farbenfroher Zug mit tanzenden, aufwändig gearbeiteten Fahnen, edlen Pferden, blitzblank poliertem Sattel- und Zaumzeug und mindestens ebenso herausgeputzten Männern. Ein eindrucksvolles Bild, das Emotionen weckt. Nicht nur einmal wischt sich eine Zuschauerin klammheimlich mit dem Handrücken über die Wange.
Unklare Historie
Lange schon pflegt man im Brixental die Tradition des Antlassrittes, so lange, dass man gar nicht mehr sagen kann, seit wann genau – und aus welchem Grund. Er wurde aus Dankbarkeit dafür eingeführt, dass die Schweden beim dreißigjährigen Krieg nicht ins Brixental einfielen, so meinte man einst. Heute weiß man, dass die Schweden damals gar nicht über den Inn kamen. Aus alten Kirchenrechnungen geht hingegen hervor, dass der Ritt schon lange vor dem 30jährigen Krieg abgehalten wurde. Wohl als Flurritt, um den Segen zu erbitten für eine gute Erntesaison.
Wann und warum der Antlassritt irgendwann einmal eingeführt wurde, ist Josef „Pep“ Schiessl eigentlich egal. Wichtig war für ihn schon als Knirps, dass er irgendwann einmal dabei sein durfte. 1970, Pep war 15 Jahre alt, war es dann soweit. Bis heuer war er jedes Jahr im Sattel – außer einmal, da hatte er sich ein Bein gebrochen.
Erbe von Generationen
Der Antlassritt ist mit vielen Bräuchen und Gepflogenheiten verbunden. Niedergeschrieben ist davon kaum etwas. Die Informationen wurden und werden von Generation zu Generation weitergegeben. So hat auch der „Schiassl Pep“ alles was er weiß, vom „Tat“ übernommen. Heute sitzen wir bei ihm daheim in der Küche, damit ich mehr darüber erfahre. Als Verstärkung hat Pep den Schützenhauptmann Hans Schipflinger eingeladen. Auch Hans reitet seit 1970 beim Antlassritt mit – Jahr für Jahr. Während Pep nur einmal fehlte, gab es bei Hans immerhin drei Ausfälle. Das erste Mal, vor 46 Jahren, ist er nur für seinen Bruder eingesprungen. Aber: „Wennsd amoi g’ritten bist, des g’foit da. Då nimmt ma a wås in Kauf, weil des san Momente, die stolz måchen.“
Wie so viele andere auch, besitzt Hans kein eigenes Pferd, muss sich immer eines ausleihen. Und das passende Antlass-Zaumzeug auch. Pep hat sich inzwischen einige angeschafft und kann drei verleihen. Ganz klassisch schöne sind es, der Zaum mit kleinen Kaurimuscheln verziert. Von all zuviel Tand hält Pep nämlich wenig, er ist Purist. Das gilt auch für den Buschen am Schweifansatz des Pferdes. Er besteht für Pep idealerweise aus drei roten und zwei weißen Pfingstrosen, Lärchenzweigen und Eichenlaub. Außerdem sollten die Reiter ein Birkenreisig in der Hand halten, „darauf håbn die Oit’n viel geben,“ erinnert sich Pep.
Viel ist nicht aufgeschrieben über das ganze Prozedere, aber wer an welcher Stelle reiten darf, das schon. Zumindest in Kirchberg. Es geht geografisch geordnet, beginnend in Klausen, dem ersten Ortsteil von Kitzbühel kommend. Der „Zuasecher“ muss den Antlassbaum aufstellen, er darf dafür den Zug anführen. Notiz für alle, die wie ich nicht wissen, was ein Zuasecher ist: Das ist derjenige, der ein Jahr lang quasi das Sagen hat in einem Ortsteil und gemeinsame Projekte wie Weiderechte, das Graben nach Wasser etc. leitet.
Nach den Klausnern reitet in Kirchberg ein Paar vom Stöckl-Bauern, dann kommen die weiteren Bauern und Vereine. Auch in Brixen ist die Reihenfolge ziemlich genau geregelt, weiß Pep.
Die Geistlichkeit reitet mit
Früher hatte jedes Dorf einen Pfarrer oder Kooperator dabei. Wollte oder konnte der Geistliche nicht reiten, lieh man sich einen „reit-willigen“ Gastpfarrer aus. Heute sind manchmal nur zwei christliche Würdenträger dabei, meist reitet der Kirchberger Pfarrer Mag. Gerhard Erlmoser mit. Er gehört zu den beherzten und treuen Teilnehmern des Antlassrittes, seit 25 Jahren schwingt er sich zu Fronleichnam in den Sattel.
Früher war es eine Ehre, für den Pfarrer das Pferd herzurichten. Heute reißt sich keiner mehr darum, Pep übernimmt in Kirchberg diese Aufgabe. „A Ehre iss, und a diam a Plåg“. Heike, Peps Lebensgefährtin, hilft ihm dabei. Sie sitzt mit uns am Tisch und erzählt, wie sie dem Pfarrer einmal „sein“ Pferd brachte. Als sich der Geistliche anschickt aufzusitzen, hält er inne und stutzt. „Des is åber nit mei Satteldecke,“ meint er zweifelnd. „Na“, sagt Heike und fügt hinzu: „Des is ja auch a anderes Pferd.“ Ein ganz braves. Aber davon will der Pfarrer nichts wissen. „Der is mir zu hoch“, sagt er, „då steig i nit auf.“ Auch das Angebot, ihn bis nach Brixen an der Hand zu führen, lehnt er ab. Also schwingt sich kurzerhand Heike in den Sattel und reitet auf und davon – nach Brixen, um das Pferd für den Pfarrer dort gegen ein anderes zu tauschen. Eine Frau auf einem Antlasspferd – ein Skandal. „I bring nur des Pferd,“ muss sich Heike unterwegs immer wieder entschuldigen. „I hätt dir’s eh nit erlaubt,“ meint Pep kopfschüttelnd. „Gut, dass ich dich nit immer fråg“, lacht da Heike.
A propos Frauen: Heike war nicht die einzige Frau auf einem Antlasspferd. Unter den Umzug haben sich in all den Jahren wirklich zwei- oder dreimal Frauen gemischt, in Männertracht. „Verbiaten ku ma des jå nit“, sagt Pep. „Owa de håb’n sich selber nix Guat’s angetan. De san zur Schnecke g’måcht worden im Dorf.“ Frauen beim Antlassritt sind für ihn kein Thema, auch für Sohn Stefan nicht. „Solång ma gnuag Männer håbn, ...“
Zug nach Brixen
Zurück zum Prozedere: Die Kirchberger Reiter sammeln sich um 11:40 bei der Kirche, sie holen den Geistlichen ab und reiten um den Antlassbaum. Wenn die Glocken um 12 Uhr mittags läuten, macht sich der Tross vom Kreisverkehr auf in Richtung Brixen. Ganz gemütlich und gesittet. Verzögerungen kann es geben, wenn unterwegs ein Gurt reißt oder ein anderes Missgeschick passiert, das kommt schon mal vor. Für alle Fälle hat Pep Kabelbinder dabei – das wichtigste Utensil beim Antlassritt.
Gegen 13 Uhr treffen die Kirchberger in Brixen ein, auch die Westendorfer stellen sich ein. Gemeinsam reitet man um die Linde. Im Dechanthof sitzen alle ab, es gibt ein Gläschen Wein zur Begrüßung. Die Monstranz wird aus der Kirche geholt. Nach der kurzen Rast heißt es wieder aufsitzen und formieren, die Kirchberger gehen voran, es folgen die Brixner und Westendorfer. Gravierende Unfälle gibt es sehr selten. Obwohl die Reiter zu 95% nur einmal im Jahr und zwar beim Antlassritt am Pferd sitzen, rutscht nur hin und wieder einer vom Pferd. Das geht aber fast immer glimpflich aus. Nur einmal erschrickt ein Pferd von einem zufallenden, scheppernden Laternentürl und macht einen Satz in die Zuschauer. Eine Frau wird damals verletzt.
Beten beim Zurückreiten
Beim Hinreiten wird geschwatzt, beim Zurückreiten nach Kirchberg gebetet, Pep ist Vorbeter. In Kirchberg geht es in Begleitung der Musikkapelle durch das Dorf. Während der Tross unterhalb der Kirche in Richtung Klausen zieht, setzt die Musik aus, es läutet nur das Sterbeglöckchen. Da gedenkt man dann den NICHT eingefallenen Schweden, frage ich nach. „Na, då denkt ma går nix,“ sagt Pep ein bisschen mürrisch, weil ich ihn unterbreche. Die Sache mit den Schweden hat sich ja nicht so zugetragen wie angenommen. „Den verstorbenen Antlassreitern gedenkt man auch nicht“, meint Heike. „Dann schreibst eini, dass ma völlig gedankenlos då vorbei reiten,“ sagt Pep ironisch und lacht. Aber dann ist er gleich wieder ernst. Denn eigentlich ist der Antlassritt eine ernste Sache oder zumindest eine, die Pep und Hans sehr ernst nehmen.
Bei der Schwedenkapelle ist der zweite Antlassbaum aufgestellt. Nach seiner Umrundung geht es zurück in Richtung Klausen, bis der Pfarrer mit der Monstranz die Kapelle erreicht hat. Die ersten Kirchberger und letzten Westendorfer befinden sich dann in etwa auf gleicher Höhe. Bei der Schwedenkapelle verliest der Pfarrer die vier Evangelien und erteilt den Wettersegen. Die „Möllinger Mam“ mit ihren mehr als 90 Jahren hält des Pfarrers Pferd wie schon seit zig Jahren. Danach gibt es für alle eine kurze Pause mit Kaffee und Kuchen oder auch ein kleines schnelles Bier beim Peternbauer. Dann zieht die Gefolgschaft ein letztes Mal los. In Kirchberg trennen sich die Wege: Die Kirchberger ziehen wieder zur Kirche hinauf , sie umrunden noch einmal den Antlassbaum und geleiten den Pfarrer „nach Hause“. Der Rest des Zuges reitet durch das Dorf und begibt sich auf den Nachhauseweg. Gerade für die Westendorfer ist der noch ganz schön weit.
Nachdem die Rösser in den Stall oder zurück zum Besitzer gebracht wurden, geht es zum Klausner zur „Nachbesprechung“. Die kann je nach Verlauf bis spät in die Nacht dauern. Da wird dann darüber diskutiert, wie das Wetter war, wie viele Leute zum Zuschauen da waren. „Und welche Dirndl’n ma g’sechn håt,“ ergänzt Hans.
Bei jedem Wind und Wetter
Der Antlassritt findet bei jeder Witterung statt, nur bei Naturkatastrophen wie Hochwasser darf er abgesagt werden. Pep und Hans sind natürlich beide schon im strömenden Regen geritten oder bei Eiseskälte. Zumindest fühlen sich die Finger an wie Eiszapfen, wenn es regnet und das Thermometer nicht mehr als ein paar mickrige Grad anzeigt. So klamm sind sie dann, dass das Öffnen der Lederhosen-Bänder ein Ding der Unmöglichkeit wird. Es gibt auch heiße Tage, in denen den Reitern fast die Zunge eintrocknet.
Pep hat es als Kind kaum erwarten können, am Antlassritt teilnehmen zu dürfen. Als er selber noch nicht reiten durfte, ist er mit dem Vater wenigstens das Pferd holen gefahren. Sein Sohn Stefan ist auch schon mit 15 Jahren das erste Mal mitgeritten, er wird heuer zum 20. Mal dabei sein. Hans hat gleich drei Söhne, die alle schon am Antlassritt teilgenommen haben.
Hans und Pep sind stolz auf ihren Nachwuchs. „Unsere Tat’n sand miteiander geritten, mia a und unsere Buam machen’s gleich.“ Nachwuchssorgen muss man sich also keine machen? „Scho“, sagt Pep. Es sollten natürlich mehr junge Männer mitreiten. Speziell die Westendorfer werden immer weniger. „Des mågst ruhig einischreib’n, dass ma de Jungen brauchen, damit der Antlassritt bestehen bleibt“, fordert mich Pep auf. Mache ich.
Der Antlassritt ist übrigens die einzige Veranstaltung, die ich kenne, die nicht zentral von einer Person, einer Gruppe oder einem Ausschuss organisiert und geplant wird. Sie wird überhaupt nicht organisiert. Es gibt keine Vorbesprechung. Denn jeder weiß, was zu tun ist. Und wenn nicht, fragt man in Kirchberg den Pep. Die Behörde nimmt die Straßensperre automatisch vor, da muss niemand anfragen oder gar einen Antrag stellen. „Der BH und der Polizei mecht ma unbedingt amoi danke såg’n“, wirft Pep ein, „und den Besitzern vo de Pferd’ a.“
Die Kirche schließt für den Tag eine Versicherung ab, auch das ist geklärt. Der Rest läuft automatisch. Wie bei Pep. Fronleichnam ist für ihn automatisch Antlassritt. „So lange, bis er nicht mehr selber vom Boden aufs Ross kommt“, sagt Heike. „Genauso iss“, nickt Pep.
TEXT: DORIS MARTINZ
FOTOS: KURT TROPPER, VEREINE, PRIVAT
ERSCHEINUNGSDATUM: MAI 2016