Der Eiskönig und seine Leidenschaft
Über die Faszination des Eiskletterns und warum die Versuchung so groß ist, in eine Wand zu steigen – auch wenn die Bedingungen nicht perfekt sind.
„Pfiati Mama, mia fåhrn ins Schwimmbad,“ ruft Markus seiner Mama zu. Es ist ein heißer Sommertag in den Neunzigerjahren. Der Blondschopf und sein älterer Bruder Gebhard schwingen sich in Schwendt auch wirklich auf die Räder. Doch es geht nicht ins Bad, sondern auf die Felswände des Wilden Kaisers. Zum Klettern. Heimlich haben sie vom Taschengeld Ausrüstung gekauft. Die Mama hätte es nicht erlaubt, sie hat Angst um ihre Buben. Die Begeisterung, die beide erfasst hat, ist aber nicht zu bremsen. Das sieht auch Mama irgendwann ein.
Als die beiden jungen Wilden 12, 13 Jahre und älter sind, fährt die Mutter sie zum Klettertraining des Alpenvereins. Sie nehmen an Wettkämpfen teil. Und jetzt fängt bei Markus Bendler die Flamme, die bis dahin schon munter flackerte, richtig zu lodern an. Das Klettern wird zur Leidenschaft, der sich in den kommenden Lebensjahren alles unterordnet.
Markus lebt vom Klettern
Bald schon schließt er sich älteren Freunden an, die ihn mitnehmen zum Eisklettern in den Pitztaler Gletscher. Von der vergänglichen Materie Eis ist er noch mehr angetan als vom Fels. Hier trennt sich der Weg der Brüder: Gebhard beginnt sein Studium, während Markus sich entscheidet, eine Bäckerlehre zu machen. Denn so kann er in der Nacht arbeiten und am Tag klettern. Das tut er auch. Nach dem „Baras“ will er nicht mehr zurück in seinen Beruf. Wenn er noch mehr Bewerbe bestreitet und gut ist, viel gewinnt, könnt es sich ausgehen, vom Klettern zu leben. 19 ist er, als er diese Überlegungen anstellt, und seine Pläne gehen auf. Denn vor gut zehn Jahren erlebt der Klettersport einen Boom, Sponsoren zahlen „ihren“ Sportlern gutes Geld. Markus ist gut, richtig gut und in der ganzen Welt zum Eisklettern unterwegs: in der Schweiz, in Italien, Frankreich, Russland, Korea und und und.
Sponsoren zahlen „ihren“ Sportlern gutes Geld. (c) maloja
Eine Eiswand bricht
Es ist eine kleine Szene, die Eiskletterei. Eine handvoll junger Männer, die die Passion teilen und sich gegenseitig zu Höchstleistungen antreiben.
Eines Tages trainiert Markus mit seinem Freund Robert in Salzburg auf einer Eiswand. Zehn Jahre später wird mir Markus sagen, dass er, könnte er die Zeit zurückdrehen, an diesem Tag wohl nicht Eisklettern gegangen wäre. Oder doch? Doch. Denn es war ja nicht vorherzusehen, was passiert: Eine große Eisstruktur bricht zusammen, spaltet sich in zwei Hälften. Markus klettert auf der linken Seite, bleibt unverletzt. Robert klettert auf der rechten Seite und wird von den einstürzenden Eismassen erdrückt. Markus muss hilflos zusehen, wie sein Freund stirbt. Als er davon erzählt, schließt Markus die Augen. Als könnte er damit die Bilder verjagen. Doch sie lassen sich nicht verjagen, sie werden Markus ein Leben lang begleiten.
„I bin dånn a Woche lång nit Klettern gånga,“ sagt Markus. Eine Woche. Was sind schon sieben Tage, möchte man meinen. In einer Woche kann man nicht verarbeiten, was er miterleben hat müssen. Doch für Markus ist es damals eine ganze Ewigkeit. Er ist 21 Jahre alt. Schon einer der besten Eiskletterer weltweit. Was passiert ist, schockt und berührt ihn natürlich tief. Und doch: Die Leidenschaft ist stärker. Er macht weiter. Robert und er waren beide Anwärter auf den Weltmeister, Robert war der Titelverteidiger. Nur zwei Wochen nach dem Unfall holt sich Markus den Titel, bekommt den „Goldenen Pickel“ überreicht.
„So a Unfall,“ versucht Markus zu erklären, „des is nit eppas, wås dazu gehört.“ Er macht eine Pause. Und fährt dann fort: „ Des is a unglücklicher Teil von dem Gånzen. Wenn ma so a Leidenschaft håt, kann man des nit einfåch abstellen.“ Er räuspert sich: „Für Außenstehende wirkt des vielleicht komisch, åber ma ordnet dem fåst alles unter.“ Es gehört auch viel mentale Stärke dazu, ein Erlebnis wie dieses zu verkraften. Markus schafft es. Er wird zu einem der Besten in der Eiskletter-Szene, gewinnt den Gesamtweltcup, wird zweimal Weltmeister. 12 Jahre sind Eispickel, Seil und Eiswand seine Welt. Eine gefährliche. Doch Markus hat Glück, wird nie ernsthaft verletzt.
Trophäen sind nicht wichtig
Heute geht es Markus gemütlicher an, auch wenn er weiterhin 3 bis 4 mal in der Woche klettern geht oder mit dem Mountainbike unterwegs ist und sich unter seinem T-Shirt die Muskeln eines perfekt trainierten Körpers abzeichnen. Wo sind die ganzen Auszeichnungen, die goldenen Pickel ausgestellt? „De liegen irgendwo,“ meint Markus, „des Zeig verstaubt gråd.“ Die Trophäen sind Markus nicht wichtig, was für ihn zählt, sind die Erinnerungen.
Vor drei Jahren hat er in Kirchdorf ein Sportgeschäft eröffnet. Wer weiß schon besser als er, was man am Berg braucht? Er kennt alle Marken und Firmen und weiß, welches Material sich für welchen Einsatz am besten eignet. So sitzen wir uns also in seinem Geschäft gegenüber, immer wieder kommt Kundschaft rein. Dann springt Markus auf, Pause für mich. Jetzt weiß ich eigentlich alles, was ich wissen wollte. Nur das Wichtigste noch nicht: Was ist so faszinierend am Eisklettern, dass man sein Leben riskiert, um einen gefrorenen Wasserfall zu bezwingen? Verrückt.
Als Markus zurückkommt bitte ich ihn, es mir zu erklären.
Die Versuchung
„De Faszination vom Klettern an sich braucht ma nit erklären, weil des is heit a Breitensport,“ sagt Markus, und da stimme ich ihm zu. Jeder Eiskletterer fängt ja auch im Fels an und ist damit einem gewissen Grad der Gefahr ausgesetzt. Doch die Materie Fels ist zu 99,9% stabil. Der Fels fällt nicht um.
„Beim Eisklettern misst ma sich an einer vergänglichen Materie,“ erklärt Markus. „Des Eis wåchst und vergeht, des is des Spånnende. Ma håt nur a kurze Zeitspånne, in der man es nutzen kann. Wenn da a richtig geiler Wasserfall is, kann der in a påar Tag schon wieder gånz ånders ausschauen. Dann ist die Chance weg. Ma ist unter Zugzwång.“
Eiswände oder gefrorene Wasserfälle sind rar. Markus und seine Kollegen und Freunde flogen in entlegene Winkel der Erde, um sie zu erklettern. „Und dann steht ma vor der Wand und woass, dass ma wahrscheinlich nur einmal im Leben de Möglichkeit hat, dass ma då auffi geht. Und de is jetzt“, schildert Markus. „Natürlich will ma die Chance unbedingt nützen, muass aber des Risiko abwägen.“ Nun ist mir klar, wie groß die Versuchung wohl sein muss, in die Eiswand zu gehen. Auch wenn die Bedingungen nicht zu 100 % optimal sind.
Angst darf nicht sein
Nicht immer gibt es einen Weg zurück, wenn man in der Eiswand hängt. Deshalb ist die Psyche ein ganz wichtiger Punkt. Was ist eigentlich, wenn man so richtig Angst bekommt, wenn man spürt, dass man es vielleicht nicht schafft, da wieder heil rauszukommen. Ist Markus das schon passiert? „Na, so eigentlich nit“, meint er. „Da muass ma si z’sammreißen, Angst ist a schlechter Begleiter. In schwierigen Situationen muass ma Gas geben, damit ma aussa kimmt, nit nachdenken.“
Wahrscheinlich hat Markus’ Mutter in all den Jahren viel mehr Angst durchgestanden als er selbst. Oder auch Theresa. Seit 10 Jahren ist sie Markus’ Herzblatt. Theresa klettert zwar auch hin und wieder, aber nur hobbymäßig. Und nicht gemeinsam mit Markus. „Weil i a bissl a Egoist bin in dem Bereich und i des a schlecht ablegen kann. Mit mir is’s vielleicht går nit so lustig, weil i nit so die Geduld håb, dass i auf jemanden wårt oder leichte Touren aussuach.“ Dass das Klettern eine reine Männersache war und ist, macht Theresa nichts aus. Und entgegen meiner Annahme macht sie sich auch keine großen Sorgen um ihn, sagt zumindest Markus. „I geh jå nit aus dem Haus und såg: heit riskier i mein Leben.“ Nein, Markus freut sich auf ein schönes Klettererlebnis und geht davon aus, dass er abends wieder zufrieden und gesund heim kommt. Wie in all den Jahren zuvor.
Markus freut sich auf ein schönes Klettererlebnis und geht davon aus, dass er abends wieder zufrieden und gesund heim kommt. (c) maloja
Neuer Pfad
Zu Markus’ Lieblingsplätzen gehört heute die Waidringer Steinplatte. Weil man bis zum Anstieg eine längere Strecke zu Fuß bewältigen muss, kommen dort weniger Kletterer hin, es ist ruhiger. Aber natürlich lockt ihn auch immer wieder der Wilde Kaiser mit seinen Steigen. Das Wandern ist ihm (noch) zu langweilig. All jenen, die sich jedoch am Fuße des „Kaisers“ wohl fühlen und nicht die Wand suchen, sei eine Wanderung ins wild-romantische Kaiserbachtal empfohlen. Im September wird dort die neue „Alpine Outdoor Gallery“ eröffnet mit künstlerischen Skulpturen, die als Verweilplätze dienen und Platz bieten für Ausstellungsstücke und Informationen. Man darf gespannt sein ... Markus wird vielleicht sogar selbst eine Rolle spielen bei der Ausstellung, sie sich auf jeden Fall ansehen. Und dann mit Seil und Karabiner weiter hinauf streben. Der Erdanziehung trotzen, den Fels bezwingen, das Gefühl der Freiheit spüren.
TEXT: DORIS MARTINZ
FOTOS: BERNHARD KOGLER, MALOJA
ERSCHEINUNGSDATUM: SOMMER 2016